Wenn wir vom Raum einer Inszenierung sprechen, so ist dieser Raum nie eindimensional. Tatsächlich besteht der Raum einer Inszenierung immer aus vielen Räumen, die ineinander geschichtet, nebeneinander gestaffelt und sich gegenseitig überlappend gemeinsam den inszenatorischen Raum ausmachen. Im besten Fall gelingt es einer Inszenierung eine Handvoll dieser Räume gleichzeitig in der Schwebe zu halten. Das Spannungsverhältnis, das sich aus dieser räumlichen Divergenz ergibt, kann dann für die Inszenierung nicht nur produktiv, sondern gar definierend werden. Zwei Inszenierungen, bei denen das spezifische Aufeinandertreffen unterschiedlicher Räume eine zentrale Rolle spielt, sind das Projekt X-Wohnungen initiiert von Matthias Lilienthal, sowie Call Cutta der Gruppe Rimini Protokoll.

X-Wohnungen – oder Theater in privaten Räumen – lebt gerade vom Zusammentreffen des privaten und des öffentlichen Raumes. Die öffentlichen Besucher*innen dringen in private Räumlichkeiten ein, verbleiben aber durch die inszenatorische Praxis dort als öffentliche Personen und nicht als private Gäste. Sie betreten diese Räume analog zu den Zuschauer*innen eines Theaterabends. Auch wenn sie in die Räume eingeladen, dort begrüßt, vielleicht sogar bewirtet werden, selbst, wenn sie innerhalb der Inszenierung einer bestimmten Wohnung die Rolle intimer Freund*innen einzunehmen gedrängt werden, stellen sie – und mitunter auch die Darsteller*innen – einen Fremdkörper in dieser privaten Umgebung dar. Es ist eine Distanz, die es dann vielleicht auch gerade möglich macht, über die Inszenierung von Privatem und Öffentlichen selbst zu reflektieren. Die Distanz verfremdet die gewohnte Umgebung der Wohnung und entfernt diese von den Zuschauer*innen um gerade in dieser Entfernung die zugrundeliegenden Zustände erkennbar zu machen.[1]

Auch bei Call Cutta gibt es ein nebeneinander mehrerer Räume. Spezifisch der Räume Berlin-Kreuzberg und Kalkutta. Diese beiden Räume werden aber durch einen dritten Raum miteinander verbunden, den des Telefonates. So wie Siegfried Kracauer in seinem Essay „Die Photographie“ die Zeit der Fotografie selbst als eine Verbindung zwischen dem ‚Damals‘ der Aufnahme und dem ‚Jetzt‘ des Ansehens beschreibt[2], kann auch der Raum des Telefonates als eine Verbindung zwischen einem ‚Hier‘ und einem ‚Dort‘ verstanden werden. Die zeitlose Zeit der Fotografie und der raumlose Raum des Telefonates sind beides Konstrukte, die immanent an einen partizipativen Prozess gebunden sind. Ohne den Akt des Telefonierens, oder ohne den Akt des Ansehens, sind weder Fotografie-Zeit noch Telefonat-Raum existent. Rimini Protokoll macht jetzt aber in Call Cutta gerade diese Konstruktion des Raumes durch den Akt des Telefonierens deutlich. Beide Teile des Telefonates unterhalten sich im Prinzip über den gleichen Raum: Berlin-Kreuzberg. Anhand eines vorgefertigten Skripts versuchen sie sich quasi gemeinsam durch diesen Raum zu bewegen. Jedoch ist der Raum, über den sie sich eigentlich unterhalten nicht das ‚reale‘ Berlin-Kreuzberg, sondern eine fiktionale Konstruktion, die sich aus dem Text des Skripts, den konkreten Beschreibungen der Lotsen, den Wahrnehmungen der Gelotsten, sowie einer Vielzahl kontingenter Nebensächlichkeiten (wie Sprachproblemen, Störgeräuschen, Missverständnissen, etc.) zusammensetzt. Den Gelotsten dürfte hierbei bald klar werden, wie ihre Raumwahrnehmung und der kommunikative Raum des Telefonates auseinander klaffen. Und hierbei tut sich wieder eine Distanz auf, die einen kritischen Blick hinter die Normautomatismen zulässt.

Auch ein anderer Aspekt verbindet diese beiden Inszenierungen, nämlich der des gelotsten Flanierens. Das Flanieren, wie es Walter Benjamin für das 19. Jahrhundert beschreibt, ist ein a priori zielloses durchqueren des Raumes. In der Durchquerung des Raumes wird dieser hierbei quasi in Besitz genommen, das Flanieren verbirgt auch immer ein Moment der Macht: der Raum, den man[3] durchstreifte gehört zumindest für den Augenblick des Durchstreifens niemand anderem. Und gleichzeitig wirkt dieser Raum aber gerade wieder auf den Durchstreifenden zurück, das „Kolportagephänomen“ des Raumes beeinflusst reziprok wieder jene, die den Raum wahrnehmen, gerade natürlich jene, die diesen Raum als ihren Raum betrachten und keine vorherigen Absichten an ihn stellen.[4]

Vornehmlich sind nun sowohl Call Cutta als auch X-Wohnungen flanierende Wanderbewegungen durch den Raum. Jedoch sind bei beiden Projekten diese Wanderbewegungen alles andere als ziellos. Vielmehr sind es ganz bestimmt geleitete Bewegungen, die einmal durch ein enges Skript, einmal durch einen vorgefertigten Stationenplan angeleitet sind. Während diese Leitung vielleicht für die Inszenierungen selbst notwendig ist, lässt sie doch die Möglichkeit des Kolportagephänomens verkümmern. Indem nämlich der Raum gezielt durchquert und nicht planlos durchstreift wird, kann der Raum auch nicht sein kolportierendes Potential entfalten. Vergleicht man dies mit anderen Inszenierungen wie Alma von Paulus Manker oder auch Ankunft Badischer Bahnhof Basel von Christoph Marthaler, in denen jeweils ein bestimmter Ort nach Lust und Interesse der Zuschauer*innen durchforstet werden kann, so zeigt sich vielleicht, welche Möglichkeiten durch dieses striktere Korsett mitunter verloren gehen.

 

Endnoten

[1] Walter Benjamins Schriften über Bertolt Brechts episches Theater bemühen genau diese Möglichkeit der Entdeckung der Zustände über die unterbrechende Distanz unentwegt. Vgl. Benjamin, Walter: „Was ist das epische Theater? (1). Eine Studie zu Brecht.“ In: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Hgg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S.519-531, hier S.521f.

[2] Vgl. Kracauer, Siegfried: „Die Photographie.“ In: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S.21-39.

[3] Die männliche Konnotation des typischen Flaneurs in dieser historischen Vorstellung dürfte hier wenig überraschen.

[4] Vgl. Benjamin, Walter: „Das Passagen-Werk. Konvolut M. Der Flaneur.“ In: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. 5, Hgg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S.524-569.