Über Distanz, Rolle und Geschlecht

 

Einleitung

Drag Acts nehmen in der Wahrnehmung oft eine eigentümliche Position ein. Während Formate wie RuPaul’s Drag Race im amerikanischen Fernsehen Erfolge feiern, der Trend von onee[1] Charakteren in japanischen TV-Shows kaum anzuhalten scheint und bekanntlich erst letztes Jahr eine bärtige Drag Queen den Grand Prix des Eurovision Song Contest gewinnen konnte, führen dieselben Acts häufig zu erbitterten Anfeindungen.[2]

Judith Butler beschreibt diese ambivalente Reaktion sehr treffend in ihrem Essay „Performative Acts and Gender Constitution“:

„Indeed, the sight of a transvestite[3] on stage can compel pleasure and applause while the sight of the same transvestite on the seat next to us on the bus can compel fear, rage, even violence.“[4]

Der Grund für diese beiden, konträren Reaktionen liegt bereits im Modus von Drag selbst begründet. Drag entfremdet das agierende Subjekt von seinem*ihrem Geschlecht. Drag schafft eine Distanz und macht diese Distanz performativ sichtbar.

Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist diese Performativität von Distanz nun aber nichts anderes als der theatrale Effekt den Bertolt Brecht in seinem epischen Theater als Verfremdung bezeichnete.

 

Drag und/als Distanz

Wie J. Jack Halberstam in seinem[5] Buch Female Masculinity ausführt gibt es einen zentralen Unterschied zwischen den dramatischen Formen Drag und Gender Impersonation:

„Historically and categorically, we can make a distinction between the drag king and the male impersonator. Male impersonation has been a theatrical genre for at least two hundred years but the drag king is a recent phenomenon. Whereas the male impersonator attempts to perform a plausible impersonation of maleness as the whole of her act, the drag king performs masculinity (often parodically) and makes the exposure of the theatricality of masculinity into the mainstay of her act.“[6]

Halberstam macht hier Drag als eine Form der Darstellung von Maskulinität bzw. Femininität fest. Drag soll eben nicht die Ganzheit einer Geschlechtsperformance bieten sondern in theatraler, oft übertriebener Weise spezifische geschlechtlich-konnotierte Akte ausstellen. Im Drag wird also nicht die (geschlechtliche) Position der dargestellten Rolle eingenommen, sondern es wird gerade die Doppelbödigkeit zwischen Darsteller*in und Rolle ausgenützt, indem beide Teile in der Performance sichtbar bleiben.

In einer der frühesten, wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Drag beschreibt Esther Newton bereits 1972 in Mother Camp dieses Spiel mit den Ebenen verschiedener Realitäten:

„At the most complex, it [drag; Anm.] is a double inversion that says ‘appearance is an illusion’. Drag says, ‘my outside appearance is feminine, but my essence inside [the body] is masculine.’; At the same time it symbolizes the opposite inversion: ‘my appearance outside [my body, my gender] is masculine but my essence inside [myself] is female.“[7]

In diesem Sinne kann Drag gerade als die Distanz aufgefasst werden, die zwischen den verschiedenen ‚Geschlechtsrealitäten‘ besteht.

Butler beschreibt die Wirkung dieser doppelten Realität auf die Rezipient*innen in ihrem Buch Gender Trouble wie folgt:

„If one thinks that one sees a man dressed as a woman or a woman dressed as a man, then one takes the first term of each of those perceptions as the ‘reality’ of gender: the gender that is introduced through the simile lacks ‘reality’, and is taken to constitute an illusory appearance. In such perceptions, in which an ostensible reality is coupled with an unreality, we think we know what the reality is coupled with an unreality and take the secondary appearance of gender to be mere artifice, play, falsehood, and illusion.“[8]

Gerade diese Distanz, die sich hier zwischen der Erwartung des Publikums und der Darstellung, zwischen dem vornehmlich ‚realen‘ Geschlecht und dem ‚konstruierten‘ Geschlecht der Drag Performance auftut lässt dann die folgenden Fragen überhaupt zu, die sich laut Butler aus der Beobachtung von Drag ergeben können:

„Her/his performance destabilizes the very distinction between the natural and the artificial, depth and surface, inner and outer through which discourse about gender almost always operates. Is drag the imitation of gender, or does it dramatize the signifying gestures through which gender itself is established? Does being female constitute a ‘natural fact’ or a cultural performance, or is ‘naturalness’ constituted through discursively constrained performative acts that produce the body through and within the categories of sex? […] What other foundational categories of identity – the binary of sex, gender, the body – can be shown as productions that create the effect of the natural, the original, and the inevitable?“[9]

 

Verfremdung und/als Distanz

Auch der Brecht’sche Verfremdungseffekt kann über die durch ihn geschaffene Distanz verstanden werden. Walter Benjamin arbeitet in seinem Essay „Was ist das epische Theater?“ dann auch diesen Modus der Distanz als zentrales Element des epischen Theaters in Abgrenzung zum naturalistischen heraus:

„Die naturalistische Bühne, nichts weniger als Podium, ist eine durchaus illusionistische. Ihr eigenes Bewußtsein, Theater zu sein, kann sie nicht fruchtbar machen, sie muß es, wie jede dynamische Bühne, verdrängen, um sich ihrem Ziele, das Wirkliche abzubilden, unabgelenkt widmen zu können. Das epische Theater dagegen behält davon, daß es Theater ist, ununterbrochen ein lebendiges und produktives Bewußtsein. Dieses Bewußtsein befähigt es, die Elemente des Wirklichen im Sinne einer Versuchsanordnung zu behandeln und am Ende, nicht am Anfang dieses Versuchs stehen die Zustände. Sie werden also dem Zuschauer nicht nahegebracht sondern von ihm entfernt.“[10]

Brecht schreibt in „Über das experimentelle Theater“ 1939/40 auch spezifisch über das Verhältnis von Schauspieler*innen und Verfremdungseffekt:

„Eine Verfremdungstechnik wird benutzt, wenn der Schauspieler es nicht zur restlosen Verwandlung in die Bühnenfigur kommen läßt, sondern lediglich, die Figur beschreibt, indem er ihre Haltungen, ihr Äußeres, ihre Benehmweisen vorführt“[11]

Spätestens hier werden die Entsprechungen zwischen Drag und Verfremdung augenscheinlich. Die Akteur*innen in Drag wie epischem Theater versuchen eben nicht eine ganzheitliche, ungebrochene Darstellung ‚auf die Bühne zu bringen‘, sondern stellen lediglich bestimmte markierte und zitierte Gesten aus. Die „zitierbare Geste“, das ist laut Benjamin „das Material“ des epischen Theaters.[12] Und gerade auch diese Zitierbarkeit ist es die nach Butler die Performativität von Geschlechterakten ausmacht.[13]

 

Drag und/als Verfremdung

Wie sich gezeigt hat scheinen Drag und Verfremdung ihre Kraft also aus den gleichen Mechanismen zu beziehen. Doch nicht nur mechanistisch können diese beiden Konzepte als analog verstanden werden, auch in den von ihnen erhofften Wirkungen lassen sich markante Parallelen ablesen.

Brecht selbst etwa beschreibt seine Hoffnung für die Verfremdung so:

„Was ist damit [durch die Verfremdung; Anm.] gewonnen? Damit ist gewonnen, daß der Zuschauer die Menschen auf der Bühne nicht mehr als ganz unänderbare, unbeeinflußbare, ihrem Schicksal hilflos ausgelieferte dargestellt sieht. Er sieht: der Mensch ist so und so, weil die Verhältnisse so und so sind. Und die Verhältnisse sind so und so, weil der Mensch so und so ist. Er ist aber nicht nur so vorstellbar, wie er ist, sondern auch anders, so wie er sein könnte, und auch die Verhältnisse sind anders vorstellbar, als sie sind.“[14]

Elin Diamond führt diese Ideen dann 1988 weiter und bezieht sie spezifisch auf ihre Hoffnung einer feministischen Nutzbarkeit von „alienation-effects“:

„A-effects are not easy to produce, but the payoffs can be stunning. When gender is ‘alienated’ or foregrounded, the spectator is enabled to see a sign system as a sign system – the appearance, words, gestures, ideas, attitudes, etc., that comprise the gender lexicon become so many illusionistic trappings to be put on or shed at will. Understanding gender as ideology – as a system of beliefs and behavior mapped across the bodies of females and males, which reinforces a social status quo – is to appreciate the continued timeliness of Verfremdungseffekt, the purpose of which is to denaturalize and defamiliarize what ideology makes seem normal, acceptable, inescapable.“[15]

Butler ist es dann schließlich, die 1993 folgende Zeilen schrieb:

„Drag is an example that is meant to establish that ‘reality’ is not as fixed as we generally assume it to be. The purpose of the example is to expose the tenuousness of gender ‘reality’ in order to counter the violence performed by gender norms.“[16]

Auch wenn Butler sich in ihrer Beschreibung der Wirkung von Drag nicht explizit auf Brecht beruft, sind die Parallelen in der Argumentation wohl offensichtlich. Wo Brecht die Gewalt von Kapitalismus und Reaktion im Kopf hat, zielt Butler auf die Gewalt der heterosexuellen Matrix ab, doch beide scheinen eben die gleiche Hoffnung zu hegen, dass durch eine Sichtbarmachung der (unsichtbaren) Wirkungsweisen dieser Gewalt, der Denkautomatismus gebrochen wird, und der erste Schritt in Richtung eines befreiteren Lebens getan ist.

 

Schlussbemerkung

Allerdings ist Drag ebenso leider kein Garant für Subversivität, wie auch Butler anmerkt:

„I want to underscore, that there is no necessary relation between drag and subversion, and that drag may very well be used in the service of both the denaturalization and reidealization of hyperbolic heterosexual gender norms. At best, it seems, drag is a site of certain ambivalence, one which reflects the more general situation of being implicated in the regimes of power by which one is constituted and, hence, of being implicated in the very regimes of power that one opposes.“[17]

Drag kann ebenso leicht hegemoniale Geschlechterpraxen stützen, wie sie unterminieren. Jedoch hat Drag ein gewisses, subversives Potential, dass sich eben dadurch ergibt, dass die Distanz zwischen handelnder Person und Handlung aufgezeigt wird. Diese Unterbrechung ist es dann die – mit Benjamin gesprochen – zu einer Entdeckung der Zustände führt:

„Die Unterbrechung der Handlung […] wirkt ständig einer Illusion im Publikum entgegen. Solche Illusion nämlich ist […] unbrauchbar, […] die Elemente des Wirklichen im Sinne einer Versuchsanordnung zu behandeln. Am Ende, nicht am Anfang, dieses Versuches stehen aber die Zustände. […] Die Entdeckung der Zustände vollzieht sich mittels der Unterbrechung der Handlung.“ [18]

Dadurch, dass Geschlecht nicht mehr als Teil einer homogenen, ganzheitlichen, und essentiellen Identität gesehen wird, sondern als Ergebnis diskreter Akte, wird eben diese Konstituierung von Identität über Akte potentiell erst sichtbar.

Hierin findet sich dann das kritische Potential, dass Drag Acts wie etwa Conchita Wurst im besten Fall bieten können und es ist genau dieses kritische Potential auf, dass sich auch Brecht und Benjamin in ihrem theaterreformatorischen Projekt berufen.

 

Quellen

Benjamin, Walter: „Der Autor als Produzent“. In: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Hgg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S.683-701.

Benjamin, Walter: „Was ist das epische Theater? (1). Eine Studie zu Brecht.“ In: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Hgg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S.519-531.

Brecht, Bertolt: „Über das experimentelle Theater.“ In: Bertolt Brecht. Schriften 2. Teil 1. Hgg. von Werner Hecht, JanKnopf, Werner Mittenzwei und Klaus Dertlef Müller. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S.540-561.

Butler, Judith: Bodies That Matter. On the Discursive Limits of ‚Sex‘. London/New York: Routledge 2011.

Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. London/New York: Routledge 2006.

Butler, Judith: „Performative Acts and Gender Constitution”. In: Performing Feminisms. Feminist Critical Theory and Theatre. Hgg. von Sue-Ellen Case. Baltimore: John Hopkins UP 1990, S. 270-282.

Diamond, Elin: „Brechtian Theory/Feminist Theory. Toward a Gestic Feminist Criticism“. In: TDR 32/1 Frühling 1988, S82-94.

Halberstam, Judith Jack: Female Masculinity. Durham/London: Duke UP 1998.

Newton, Esther: Mother Camp. Female Impersonators in America. Chicago: Chicago UP 1972.

 

Endnoten

[1] Wörtlich übersetzt etwa „große Schwester“, finden sich diese feminin agierenden und gekleideten, männlichen Charaktere heute in einer Vielzahl von fiktionalen und Reality Formaten in Japan.

[2] Ein Beispiel hierfür bieten etwa einige russische Twitter-Nutzer, die sich aus Protest gegen Conchita Wurst ihren Bart abrasierten. Vgl. Frena, Bernhard: „Im Zeichen des Bartes.“ In: Eurovision Song Contest. Eine kleine Geschichte zwischen Geschlecht, Körper und Nation. Hgg. v. Christine Ehardt, Georg Vogt und Florian Wagner. Wien: Zaglossus 1990, S.296-307.

[3] In diesem frühen Text verwendet Butler noch den Begriff „transvestite“ den sie bereits in Gender Trouble dann durch Drag ersetzen wird.

[4] Butler, Judith: „Performative Acts and Gender Constitution“. In: Performing Feminisms. Feminist Critical Theory and Theatre. Hgg. von Case, Sue-Ellen, Baltimore: John Hopkins 1990, S. 270-282, hier S. 278.

[5] Die Auswahl des männlichen Pronomen bei Judith Jack Halberstam wurde analog zu den Aussagen in diesem Interviews vorgenommen: http://www.lambdaliterary.org/interviews/02/01/jack-halberstam-queers-create-better-models-of-success/; Zugriff: 29.07.2015.

[6] Halberstam, Judith J.: Female Masculinity. Durham/London: Duke UP 1998, S. 232.

[7] Newton, Esther: Mother Camp. Female Impersonators in America. Chicago: Chicago UP 1972, S.103.

[8] Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of identity. London/New York: Routledge 2006, S.xxiii.

[9] Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of identity. London/New York: Routledge 2006, S.xxxi.

[10] Benjamin, Walter: „Was ist das epische Theater? (1). Eine Studie zu Brecht.“ In: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Hgg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S.519-531, hier S.521f.

[11] Brecht, Bertolt: „Über das experimentelle Theater.“ In: Bertolt Brecht. Schriften 2. Teil 1. Hg. von. Werner Hecht/JanKnopf/Werner Mittenzwei/Klaus Dertlef Müller. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S.540-561, hier S.560.

[12] Vgl. Benjamin, Walter: „Was ist das epische Theater? (1). Eine Studie zu Brecht.“ In: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Hgg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S.519-531, hier S.521.

[13] Vgl. Butler, Judith: Bodies That Matter. On the Discursive Limits of ‚Sex‘. London/New York: Routledge 2011, S.177.

[14] Brecht, Bertolt: „Über das experimentelle Theater.“ In: Bertolt Brecht. Schriften 2. Teil 1. Hg. von. Werner Hecht/JanKnopf/Werner Mittenzwei/Klaus Dertlef Müller. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S.540-561, hier S.555.

[15] Diamond, Elin: „Brechtian Theory/Feminist Theory. Toward a Gestic Feminist Criticism“. In: TDR 32/1 Frühling 1988, S82-94, hier S. 85.

[16] Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of identity. London/New York: Routledge 2006, S.xxv.

[17] Butler, Judith: Bodies That Matter. On the Discursive Limits of ‚Sex‘. London/New York: Routledge 2011, S.85.

[18] Benjamin, Walter: „Der Autor als Produzent“. In: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Hgg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S.683-701, hier S. 698.