Rezension von The Big Lumpazi, Inszenierung des bernhard ensembles im Off Theater

Was ist der Mehrwert davon, einen Film auf die Bühne zu bringen? Welchen Sinn hat es ein possierliches Pastiche einer bekannten Hollywoodproduktion für ein Wiener Publikum neu zu inszenieren? Ein Film, so scheint es, ist doch schon immer auf eine Art und Weise perfekt, wie es ein Theaterstück nie sein könnte. Jeder Shot, jede Einstellung, jede Szene, jede Regung jede*r Schauspieler*in kann so lange geprobt, wiederholt, neu-arrangiert und schließlich zusammenmontiert sowie nachbearbeitet werden, bis exakt das von dem*der Regisseur*in gewünscht Resultat erreicht wird. Und dieses Resultat ist dann in Endlosschleife, unverändert, unveränderbar auf ewig sich wiederholend anzusehen. Eine Theateraufführung kann diesen grad der Perfektion nie erreichen; doch muss sie?

Was, wenn diese absolute Kontrolle des*der Regisseur*in, dieses Diktat einer singulären Vision und diese unfehlbare Wiederholbarkeit gar nicht Ziel, gar nicht Zweck einer Theateraufführung sein sollen? Was, wenn es hingegen gerade diese Perfektion ist gegen die sich Theater im Innersten zu wenden hätte?

The Big Lumpazi des bernhard ensembles im Wiener Off Theater[1] ist nach keiner gängigen Definition eine perfekte Inszenierung; kann sie auch gar nicht sein. Das Stück ist über einen Großteil der Zeit völlig improvisiert. Die Schauspieler*innen wissen die grobe Struktur, sie kennen ihre Charaktere, haben sich mit ihren Kolleg*innen eingespielt und sind sich natürlich der dramatischen und filmischen Vorlagen – The Big Lebowski von den Coen Brothers[2], sowie Der böse Geist Lumpacivagabundus von Johann Nestroy[3] – bewusst. Innerhalb dieses sehr losen Gerüsts turnen die Darsteller*innen herum. Sie werfen sich Dinge an den Kopf – metaphorisch wie gegenständlich –, beziehen sich auf Tagesaktuelles – dem steten Einfallsreichtum der Wiener Lokalpolitik(er*innen) sei Dank – und interagieren gar spontan mit dem Publikum – etwa deren (unbeabsichtigt!) umfallenden (leeren!) Bierdosen.

Auch die Spielweise der Akteur*innen scheint keine große geschlossene Bühnenillusion zu unterstützen, ist sie doch alles andere als illusionistisch. Vielmehr scheinen die Charaktere hier reine Abziehbilder zu sein die von den Darsteller*innen übergestülpt in ständig sich wiederholenden Variationen gegeneinander geworfen werden – gleichsam wie in einem großen Laboratorium.[4] Einfühlung vermitteln diese Darstellungen nicht. Im Gegensatz zum Film besteht hier immer eine gewisse Distanz; das Publikum mag über Witze lachen oder auch manches Mal gespannt auf die nächste Verwicklung warten, aber es scheint schwer vorzustellen, dass jemand beim klimatischen Todesfall gegen Ende der Inszenierung eine Klos im Halse verspürt.

Diese Inszenierung lebt nicht von der Einfühlung sie lebt nicht von der Illusion, sie lebt nicht von der Perfektion. Sie lebt von der Ausstellung ihrer Charaktere, sie lebt von der ständigen Unterbrechung, sie lebt von einer Ästhetik des Bruches, der Transitorik und der Unmittelbarkeit. Genau dieses ästhetische Dreiergespann ist es aber, welches eine Theateraufführung gegenüber einem Film abgrenzt. Während ein Film nie unvermittelt sein kann, während er quasi unverändert Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt überdauert und während er seine Brüchigkeit mit allen Mitteln ständig zu vertuschen sucht[5], macht The Big Lumpazi all dies performativ sichtbar.

Genau hier scheint nicht nur der Mehrwert einer Bühnenadaption von The Big Lebowski, sondern insbesondere auch eine Montage derselben mit Versatzstücken aus dem Lumpacivagabundus zu liegen. Denn dessen eingeschobenen Couplets, die verworrene und aufgesetzte Rahmenhandlung sowie der ständige Rollentausch und Ebenenwechsel zerstören auch den letzten Rest einer möglichen Bühnenillusion. Vielmehr unterbrechen sie ständig scheinbar auftretende Zusammenhänge, in einem steten Versuch hinter diese zu blicken; oder, wie Walter Benjamin in „Der Autor als Produzent“ es ausdrückt:

„Die Unterbrechung der Handlung […] wirkt ständig einer Illusion im Publikum entgegen. Solche Illusion nämlich ist […] unbrauchbar, […] die Elemente des Wirklichen im Sinne einer Versuchsanordnung zu behandeln. Am Ende, nicht am Anfang, dieses Versuches stehen aber die Zustände. […] Die Entdeckung der Zustände vollzieht sich mittels der Unterbrechung der Handlung.“ [6]

 

Endnoten

[1] Genauer im Off White Theater, einer Bühne die schon allein aufgrund des atemberaubenden Aufstieges in den – gleichfalls – atemberaubenden Bühnenraum einen Besuch wert wäre.

[2] The Big Lebowski. USA/UK 1998. Regie: Joel Cohen / Ethan Cohen.

[3] Johann Nestroy: Der böse Geist Lumpacivagabundus oder Das liederliche Kleeblatt. Wien 1833.

[4] Nur eine von vielen möglichen Brecht Referenzen, nicht zuletzt vielleicht weil das bernhard ensemble erst 2010 selbst eine Brecht-Collage aufgeführt hat.

[5] Denn auch der Film ist ein immanent brüchiges Medium, nicht zuletzt, da er schon strukturell aus einzelnen, voneinander formal getrennten Bildern besteht.

[6] Walter Benjamin: „Der Autor als Produzent“. In: Gesammelte Schriften 2. Suhrkamp 1977, S. 698.

 

Das Titelbild ist der offizielle Veranstaltungsflyer von The Big Lumpazi. © Off Theater 2015. Via: http://white-box.at/