Fetishistic Scopophilia im Film La Vie d’Adèle

 

Einleitung

Der Film La Vie d’Adèle[1] hat bereits seit seiner Premiere für einige Diskussionen gesorgt. Die Hauptdarstellerinnen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos prangerten die Arbeitsbedingungen am Set und insbesondere die Arbeitsweise des Regisseurs Abdellatif Kechiche an.[2] Die queere Kritik beklagte sowohl die Darstellung lesbischer Sexualität im Film als auch die Kategorisierung des Films selbst als „lesbisch“.[3] Sogar Julie Maroh, die (dezidiert lesbische) Autorin der im Film adaptierten Graphic Novel, unterstützte dieses Urteil.[4] Und auch ansonsten wurde La Vie d’Adèle, trotz vielfachen Lobes und dem Gewinn der Palme d’Or in Cannes[5], von einigen Filmjournalist*innen heftig kritisiert.[6]

Ein häufig benutztes Stichwort in dieser Kritik war hierbei der male gaze. Kechiche wurde vorgeworfen, einen männlichen, voyeuristischen Blickwinkel im Film zu forcieren. Dies mag zunächst überraschend erscheinen, da Männer* nur als Nebenfiguren vorkommen, meist als kurze Berührungspunkte oder nur als Etappen des Narratives. Es gibt keine männliche Figur, die durchgehend oder auch nur regelmäßig präsent wäre und an die ein male gaze anknüpfen könnte. Sofern ein männlicher Blickwinkel in diesem Film besteht, muss dies ein körperloser, unvermittelter male gaze sein.

Unmittelbare Nähe

Der grobe Handlungsablauf von La Vie d’Adèle ist schnelle erzählt. Die junge Adèle trifft und verliebt sich in die etwas ältere Emma. Die beiden werden ein Paar, leben zusammen, Adèle betrügt Emma, die Beziehung zerbricht. Die Kamera folgt Adèle über die gesamte Länge des Filmes. Es gibt in den gesamten drei Stunden keine einzige Sequenz, in der Adèle nicht zumindest im Off des Bildraumes verortet werden kann. Die meiste Zeit ist sie jedoch direkt zu sehen. Doch anstatt sie im Verhältnis zum umgebenden Raum zu zeigen, ihre Interaktion als Figur mit anderen Menschen, kleben die Einstellungen an ihrem Gesicht oder einzelnen Details ihres Körpers.

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Abbildung 1

Während sie mit ihrer Familie Spaghetti isst[7] kommt der gesamte Tisch erst am Ende der Sequenz kurz ins Bild. Den Hauptteil nehmen Close-Ups von Adèles Gesicht ein, die nur selten durch kurze Großaufnahmen der Gesichter ihrer Eltern oder der Spaghetti unterbrochen werden. Wir sehen Adèle mit halboffenem Mund kauen, während ihre Eltern ungesehen Smalltalk betreiben und der Fernseher Hintergrundgeräusche liefert. Statt ihre Einbindung in eine soziale Situation, sehen wir halbzerkaute Essensreste.[8]

Die Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey schreibt eine fragmentierte Darstellung weiblicher* Körper „destroys the Renaissance space, the illusion of depth demanded by the narrative, it gives flatness, the quality of a cut-out or icon“[9] Auf diese Weise lässt sich die Distanzlosigkeit und die visuelle Zerstückelung von Adèles Körper als Fetischisieren ihrer Figur zu einem erotischen, weiblichen* Objekt lesen. Der Mangel an Distanz zu diesem ‚Objekt‘ und das Fehlen eines repräsentativen Beobachters, erschweren eine distanzierte Betrachtung oder eine Reflexion über die erzeugte Schaulust:

„fetishistic scopophilia, builds up the physical beauty of the object, transforming it into something satisfying in itself. […]  fetishistic scopophilia […] can exist outside linear time as the erotic instinct is focused on the look alone.“[10]

Besonders auffällig wird dies in den zahlreichen Schlafsequenzen. Es gibt im Film vier Sequenzen[11], die Adèle schlafend zeigen. Diese Sequenzen sind aus zwei Gründen markant. Einerseits sind sie narrative Nullstellen. Der Blick auf die Schlafende erfüllt keinen Zweck in der Erzählung. Oft ist sogar unklar wo genau im Narrativ die Schlafsequenz einzuordnen ist. Stattdessen sehen wir Teile von Adèles Körper: ihr Haar, ihren Mund, ihr Gesicht, ihren Hintern. Immer mit akkurat gewähltem Ausschnitt, gut ausgeleuchtet, ästhetisch ansprechend. Manchmal schwenkt die Kamera sogar genüsslich über den ganzen erotisierten Frauen*körper.

Durch diese Doppelfunktion aus Zerstückelung und Ikonisierung des Frauen*körpers sowie dem absolute Aussetzen der Narration erfüllen diese Sequenzen genau die Erwartungen der fetishistic scopophilia. Adèle ist in diesen Sequenzen deutlich nicht die handelnde Person, die Protagonistin, sie ist ja nicht einmal bei Bewusstsein. In dieser Funktion wird sie zum reinen Produkt, welches direkt und unmittelbar dem Blick der Rezipient*innen dargeboten wird. Dieses Verfahren beschreibt auch Mulvey:

„The beauty of the woman as object and the screen space coalesce; she is no longer the bearer of guilt but a perfect product, whose body, stylised and fragmented by close-ups, is the content of the film and the direct recipient of the spectator’s look.“[12]

 Unnahbare Ferne

Spannend ist nun, dass diese Nähe der Kamera an einigen bestimmten Stellen gebrochen wird. Spezifisch ist dies in den Sexsequenzen der Fall, am deutlichsten im ersten (dargestellten) Sex zwischen Emma und Adèle.[13]

Diese 06:52 Minuten lange Sequenz zeigt die beiden weiblichen* Körper eng umschlungen, scheinbar gierig sich aneinanderpressend, sich in diversen Positionen windend. Die Groß- und Detailaufnahmen werden immer wieder von Ganzkörper Tableaus und halbnahen Schwenks über die verschlungenen Körper durchbrochen. Kechiche äußerte sich hierzu in einem Interview:

„What I was trying to do when we were shooting these scenes was to film what I found beautiful. So we shot them like paintings, like sculptures.“ [14]

Diese Sequenz wirkt dann auch in der Rezeption künstlich. Maroh selbst bezeichnete sie als „a brutal and surgical display, exuberant and cold, of so-called lesbian sex, which turned into porn, and made me feel very ill at ease.“[15] Die Gründe hierfür treten am augenscheinlichsten zu Tage, wenn die Sequenz im Film mit der gleichen Szene in Marohs Vorlage verglichen wird.

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Abbildung 2

Zunächst wäre da die unterschiedliche Rahmung. Im Film folgt die Sequenz unmittelbar auf eine Sequenz im Park, bei dem die beiden sich zum ersten Mal küssen.[16] Der Schnitt geht von einem Close-Up auf Adèles lachendes Gesicht nach dem Kuss direkt auf die beiden eng umschlungen, knienden Körper von Emma und Adèle im Medium-Long-Shot.[17] Die Kamera ist neben den beiden positioniert und schwenkt langsam an den Körpern hinab und wieder herauf.

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Abbildung 3 

Im Buch findet der Sex als Höhepunkt einer längeren Szene statt, in der ein Date dramaturgisch fließend in Sex übergeht.[18] Im ersten Panel knien Clementine und Emma ebenfalls. Jedoch sind sie gerade dabei, sich gegenseitig Auszuziehen. Der Ausschnitt ist ebenfalls etwa vom Kopf bis zur Hüfte, jedoch sieht man die beiden hier von hinten beziehungsweise vorne.[19]

Durch diese unterschiedliche Rahmung und den daraus folgenden unterschiedlichen Anfängen wird auch wieder die Ausgangsposition für die ganze Sequenz vorgegeben. Die Figuren im Comic suchen immer wieder Augenkontakt, kommunizieren ständig miteinander und unter ihrer offensichtlichen Lust an- und füreinander blitzt immer wieder Unsicherheit und Ungewohntheit auf.

In der Filmsequenz fehlt hiervon jedoch jede Spur. Die Darsteller*innen haben kaum Augenkontakt, ihre Blicke sind sogar oft voneinander abgewendet. Kommunikation scheint nicht vorhanden, die Ton-Ebene ist allein lustvollem Stöhnen vorbehalten. Auch von Unsicherheit kann keine Rede sein. Beide greifen ohne Hemmungen zu, klatschen sich auf den Hintern, tauschen ohne Moment des Zögerns beliebige Körperflüssigkeiten aus und wechseln ohne Übergang von einer sexuellen Position in die nächste.

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Abbildung 4

Diese emotionale Distanz konzentriert den Blick der Rezipient*innen auf die reine Körperlichkeit der Figuren. Wie Kechiche schon formuliert hat, ist es die reine ästhetische Schönheit, die aus diesen Bildern spricht, nicht die Emotionalität der Geschehnisse.

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Abbildung 5

Das Ende der jeweiligen Sequenz in Film und Comic ist hierfür geradezu symptomatisch. Während wir im Film Emma und Adèle am Ende erotisch ineinander verworren sehen,[20] zeigt uns Maroh am Schluss nur die Hände der beiden – festumschlossen.[21]

 

Schlussbemerkung

Obwohl sie die Zuseher*innen durch den ganzen Film begleitet und die Handlung in einer sehr direkten Weise ihre Handlungen sind, fällt es schwer, Adèle als die Protagonistin von La Vie d’Adèle zu bezeichnen. Der Blickwinkel, den der Film bietet, ist nicht ihr Blickwinkel. Es ist ein Blick auf sie. Statt den Blick zu leiten ist sie Objekt dieses Blickes. Adèle führt nicht durch die Handlung, sie wird von ihr verfolgt. Der Blick ist auf sie gerichtet, nicht durch sie.

Dies führt dazu, dass Adèle eben keine Identifikationsfigur für die Rezipient*innen ist. Sie ist stattdessen fetischisierte Ikone, ein erotisiertes, ästhetisiertes Bild einer Frau*.

Gerade der Vergleich mit der Graphic Novel, selbst auch ein vorwiegend visuelles Medium, zeigt deutlich die Verschiebung des Blickwinkels weg von der weiblichen* Protagonistin und hin zur männlichen* Kamera.

Exarchopoulos meinte in einem Interview: „Kechiche is ‘obsessed’, with women, […] observing them, solving their ‘mystery’.“[22] Ihre Beschreibung von Kechiche klingt hierbei wie das Echo einer männlichen* Figur aus dem Film selbst, die während einer Party ausgiebig über die Mystik weiblicher* Sexualität und des weiblichen* Orgasmus schwadroniert:

Joachim: Sobald ich mit einer Frau schlief, beobachtete ich etwas, das nicht…

Emma: Sie betrat eine andere Welt.

Joachim: Genau.

Emma: Ja, der Orgasmus ist außerkörperlich.

Joachim: Aber der unsere ist eingeschränkt.

Emma: Der weibliche Orgasmus ist mystisch?

Joachim: Davon bin ich überzeugt. [23]

Vielleicht sollte Julie Maroh das Schlusswort bekommen:

„I totally get Kechiche’s will to film pleasure. The way he filmed those scenes is to me directly related to another scene, in which several characters talk about the myth of the feminine orgasm, as … mystic and far superior to the masculine one. But here we go, sacralize once more womanhood in such ways. I find it dangerous.

As a feminist and a lesbian spectator, I can not endorse the direction Kechiche took on these matters.“[24]

 Endnoten

[1] La Vie d’Adèle. Chapitres 1 et 2. Regie: Abdellatif Kechiche, FR/TN/BE/ES 2013. Deutscher Titel: Blau ist eine warme Farbe. Englischer Titel: Blue Is the Warmest Color.

[2] Vgl. Stern: „The Stars of Blue is the Warmest Color On the Riveting Lesbian Love Story“.

[3] Vgl. Tsika: „Classifying Blue Is the Warmest Color“; Bianco: „REVIEW: Is Blue Is the Warmest Color a ‘lesbian film’?“; Lang: „A Lesbian Movie Without Lesbians. The Problem With Blue Is the Warmest Color“.

[4] Vgl. Maroh: „Adèle’s Blue“.

[5] Vgl. www.festival-cannes.fr/en/article/60420.html, Zugriff: 20.08.2014.

[6] Vgl. Dargis: „Critic’s Notebook. Jostling for Position in Last Lap at Cannes“; Bartyzel: „Girls on Film. Blue Is the Warmest Color is a sexed-up failure“.

[7] La Vie d’Adèle, 00:06:35 – 00:07:40.

[8] Vgl. Abbildung 1: La Vie d’Adèle, 00:07:01.

[9] Vgl. Mulvey: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, S. 12.

[10] Mulvey: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, S. 13f.

[11] La Vie d’Adèle, 00:07:50 – 00:08:03; 00:54:08 – 00:54:23; 02:27:09 – 02:27:59; 02:30:22 – 02:31:12.

[12] Mulvey: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, S. 14.

[13] La Vie d’Adèle, 01:14:55 – 01:21:47.

[14] Anon.: „Abdellatif Kechiche Interview For Blue Is The Warmest Color“, Frage 8.

[15] Maroh: „Adèle’s Blue“, S. 2.

[16] La Vie d’Adèle, 01:09:40 – 01:14:55.

[17] Vgl. Abbildung 2: La Vie d’Adèle, 01:14:55.

[18] Maroh / Hahnenberger: Blue Is The Warmest Color, S.87-97.

[19] Vgl. Abbildung 3: Maroh / Hahnenberger: Blue Is The Warmest Color, S.94.

[20] Vgl. Abbildung 4: La Vie d’Adèle, 00:21:11.

[21] Vgl. Abbildung 5: Maroh / Hahnenberger: Blue Is The Warmest Color, S.97.

[22] Greenhouse: „Did a Director Push Too Far?“. In: The New Yorker, Absatz 11.

[23] La Vie d’Adèle, 01:52:35 – 01:54:32, hier Transkription eines Teiles davon aus den Untertiteln.

[24] Maroh: „Adèle’s Blue“, S. 2.

 

Quellenverzeichnis

Filmverzeichnis

La Vie d’Adèle. Chapitres 1 et 2. Regie: Abdellatif Kechiche, FR/TN/BE/ES 2013. Blue-Ray Video: Blue Is The Warmest Color, Criterion 2014.

Literaturverzeichnis

Anon.: „Abdellatif Kechiche Interview For Blue Is The Warmest Color“. In: Flicks and Bits, 26.05.2013. Via: www.flicksandbits.com/2013/05/26/abdellatif-kechiche-interview-for-blue-is-the-warmest-colour/48346/, Zugriff: 06.08.2014.

Bartyzel, Monica: „Girls on Film. Blue Is the Warmest Color is a sexed-up failure“. In: The Week, 06.09.2014. Via: theweek.com/article/index/249061/girls-on-film-blue-is-the-warmest-color-is-a-sexed-up-failure, Zugriff: 06.08.2014.

Bianco, Marcie: „REVIEW: Is Blue Is the Warmest Color a ‘lesbian film’?“. In: After Ellen, 25.10.2013. Via: afterellen.com/blue-is-the-warmest-color-comes-stateside/10/2013/, Zugriff: 06.08.2014.

Dargis, Manohla: „Critic’s Notebook. Jostling for Position in Last Lap at Cannes“. In: New York Times 24.05.2013, S. C8. Via: nytimes.com/2013/05/24/movies/many-films-still-in-running-at-cannes-for-palme-dor.html, Zugriff: 06.08.2014.

Greenhouse, Emily: „Did a Director Push Too Far?“. In: The New Yorker, 24.10.2013. Via: newyorker.com/culture/culture-desk/did-a-director-push-too-far, Zugriff: 06.08.2014.

Lang, Nico: „A Lesbian Movie Without Lesbians. The Problem With Blue Is the Warmest Color“, In: Huffington Post. Gay Voices, 23.01.2014. Via: huffingtonpost.com/nico-lang/blue-is-the-warmest-color_b_4178865.html, Zugriff: 06.08.2014.

Maroh, Julie / Hahnenberger, Ivanka (Übersetzerin): Blue Is The Warmest Color, Vancouver: Arsenal Pulp 2013. Orig: Le Bleu est une couleur chaude. Grenoble: Glénat Editions 2010.

Maroh, Julie: „Adèle’s Blue“. In: Les couers exarcerbés, 27.05.2013. Via: juliemaroh.com/2013/05/27/le-bleu-dadele/, Zugriff: 26.06.2014.

Mulvey, Laura: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“. In: Volume 16 Issue 3. Herbst 1975, S. 6-18. Via: screen.oxfordjournals.org/content/16/3/6, Zugriff: 26.06.2014.

Romney, Jonathan: „Abdellatif Kechiche interview: ‘Do I need to be a woman to talk about love between women?’“. In: The Observer, 27.10.2013. Via: theguardian.com/film/2013/oct/27/abdellatif-kechiche-interview-blue-warmest, Zugriff: 06.08.2014.

Stern, Marlowe: „The Stars of Blue is the Warmest Color On the Riveting Lesbian Love Story“. In: The Daily Beast, 01.09.2013. Via: thedailybeast.com/articles/2013/09/01/the-stars-of-blue-is-the-warmest-color-on-the-riveting-lesbian-love-sory-and-graphic-sex-scenes.html, Zugriff: 06.08.2014.

Tsika, Noah: „Classifying Blue Is the Warmest Color“. In: Huffington Post. Gay Voices, 01.11.2013. Via: www.huffingtonpost.com/noah-tsika/blue-is-the-warmest-color_b_4194643.html, Zugriff: 06.08.2014.

 

Die Abbildungen 1, 2 und 4 sind Screenshots aus dem Film La Vie d’Adèle. © Criterion 2014.

Die Abbildungen 3 und 5 sind digitale Reproduktionen aus dem Buch Blue is the Warmest Color. © Julie Maroh 2010.

Das Titelbild ist eine selbstgefertigte Collage aus diesen beiden Werken.